Bürgermeisterbrief
zur Entlastungsallianz in Hessen
Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
viele Kommunen stehen vor dem Kollaps, der kommunale Finanzausgleich funktioniert nicht mehr und täglich werden die Kommunen mit neuen Gesetzen, Verordnungen und bürokratischen Anforderungen überhäuft, die von einer Verwaltung personell und finanziell nicht leistbar sind.
Auf Initiative der kommunalen Spitzenverbände und anderer Institutionen, haben sich der Hessische Städte- und Gemeindebund, der Hessische Landkreistag, der Hessische Städtetag, der Sparkassen- und Giroverband Hessen Thüringen, der Kommunaler Arbeitgeberverband Hessen, der Verband Kommunaler Unternehmen e.V., der Hessische Handwerkstag und der Verband Hessischer Waldbesitzer zusammengeschlossen, um gemeinsam für eine Entlastungsallianz zu sorgen.
Gerade mit Blick auf die kommende 21. Wahlperiode des Hessischen Landtags muss eine tief greifende Änderung der politischen und verwaltungsmäßigen Praxis in unserem Land angemahnt werden. Die nächste Wahlperiode muss im Zeichen von Aufgabenkritik, Priorisierung und Bürokratieabbau stehen. Gemeinsam ist den genannten Institutionen eine besondere Verpflichtung auf das Allgemeinwohl.
Die Forderungen der Spitzenverbände (die Gemeinde Nieste ist Mitglied im HSGB), kann man an dieser Stelle uneingeschränkt unterstützen.
Handlungsnotwendigkeiten und Herausforderungen
Bevölkerung, Wirtschaft und politisches System haben in den letzten Jahren eine Vielzahl schwerwiegender Krisen zu bewältigen gehabt. Zugleich führt die demographische Entwicklung zu einem spürbaren Arbeitskräftemangel, stellt die fortschreitende Digitalisierung aller Lebensbereiche gewohnte Abläufe in Frage, sind Klimaschutz und Anpassung an den nicht mehr zu vermeidenden Klimawandel zu bewältigen. Es gilt, die äußere, innere und die Cyber-Sicherheit wirksam zu stärken. Die öffentliche Infrastruktur muss instandgesetzt und nachhaltig besser erhalten werden.
Die Herausforderungen der kommenden Jahre sind somit gewaltig. Gleichzeitig ist bereits heute zu spüren, dass das Maß an öffentlichen Leistungsversprechen in vielen Fällen schon länger nicht mehr mit der faktischen Leistungsfähigkeit übereinstimmt. Begrenzte finanzielle und personelle Ressourcen sowie überbordende bürokratische Anforderungen führen immer öfter dazu, dass die in Aussicht gestellten Verbesserungen von politischen Ankündigungen und ihrer gesetzlichen Umsetzung in der Praxis nicht realisiert werden.
Vertrauen in unsere Demokratie stärken
Die Menschen merken, dass Anspruch und Wirklichkeit oft nicht übereinstimmen: Im ARD Deutschlandtrend vom Oktober 2022 äußerte sich nur noch eine knappe Mehrheit der Befragten zufrieden mit dem Funktionieren unserer Demokratie. Nach einer im Juni 2023 veröffentlichten Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach sehen 52% der Befragten sich als machtlos an, wenn es um die Gestaltung des Wohnorts geht; nur 29% sehen für sich Einflussmöglichkeiten. Eine qualitative Studie des Demokratiezentrums Hessen beschreibt als Ursachen für Anfeindungen und Bedrohungen von kommunalpolitisch Verantwortlichen, dass die Kommune selten Entscheiderin, sondern primär ausführende Instanz ist; die vor Ort Verantwortlichen müssen viele Ressourcen darauf verwenden zu vermitteln, dass die betreffende Entscheidung auf Kreis-, Landes- oder Bundesebene getroffen wird.
Wir nehmen einerseits eine hohe Zufriedenheit vieler Menschen mit ihrer persönlichen Lebenssituation in Hessen wahr. Die andererseits erkennbare Unzufriedenheit ist daher besonders erklärungsbedürftig. Wesentliche Ursachen sind nach unserer Beurteilung die Differenz zwischen Ankündigung und Umsetzung bei neuen Leistungen und der Eindruck, dass Leistungsversprechen, aber auch Vorgaben und Standards wenig mit den alltäglichen Bedürfnissen vieler Menschen und Unternehmen zu tun haben und auch denen nicht einleuchten, die in dem betreffenden Bereich praktisch tätig sind.
Trotz dieser Probleme sind wir sicher, dass mit einer gemeinsamen Anstrengung konstruktive Lösungen zu entwickeln sind und das Vertrauen in unsere Demokratie wieder deutlich gestärkt werden kann:
Vertrauen in Verantwortungsbewusstsein und Gestaltungskraft
Ob in der Kommunalpolitik, in der Wirtschaft oder im Ehrenamt: Viele rechtliche Vorgaben binden knappe personelle und finanzielle Mittel. Menschen werden in aller Regel aktiv, um im weitesten Sinne Nützliches für andere zu tun. Beispielhaft verpflichtet die Hessische Gemeindeordnung die Gemeinden einleitend auf die Förderung des Wohls ihrer Einwohner.
Das bewirken die Kommunen auch, mit verlässlicher Infrastruktur und unter Hilfe vieler Ehrenamtlicher, etwa im Bereich des Brandschutzes oder durch Förderung der weithin ehrenamtlich getragenen Strukturen sozial, sportlich, kulturell oder ökologisch ausgerichteter Vereine. Diese Tätigkeiten nimmt jedoch niemand wahr, um sich in erster Linie mit Antragsverfahren, Dokumentations- und Berichtspflichten auseinanderzusetzen.
Deshalb sollte in den kommenden Jahren das dezentrale und eigenverantwortliche Handeln gestärkt werden, insbesondere bestehende Vorgaben möglichst beseitigt oder wenigstens verschlankt werden. Das wäre ein Ausdruck in das aus unserer Sicht berechtigte Vertrauen in Verantwortungsbewusstsein und Gestaltungskraft einer großen Mehrheit unserer Gesellschaft und in eine leistungsfähige Wirtschaft.
Hier bieten die Erfahrungen aus bewältigten Krisen durchaus Anlass zu Optimismus und Vertrauen: Ohne gesetzliche Pflicht haben beispielsweise in der Corona-Pandemie fast drei Viertel der Gesamtbevölkerung Verantwortung für sich und die Mitmenschen übernommen, indem sie sich mindestens grundimmunisieren ließen.
Entlastungsallianz
Wir sind bereit zu einer umfassenden Entlastungsallianz zwischen Land, Kommunen und Wirtschaft. Voraussetzung dafür ist der ernsthafte politische Wille,
- eigenverantwortliche lokale Gestaltung zuzulassen: Bei Rechtssetzungen muss künftig der Leitgedanke im Vordergrund stehen, welche Wirkung damit für Bevölkerung sowie Unternehmen erzielt werden soll. Dabei muss die Offenheit für lokale Lösungen gewahrt werden, nicht umsonst enthält unsere Landesverfassung einen Verfassungsauftrag für gleichwertige und eben nicht schematisch gleiche Lebensverhältnisse;
- Standards für Standards zu setzen: Wer Vorgaben und Standards setzen will, hat die erforderlichen personellen und finanziellen Ressourcen sowie mindestens drei Entscheidungsalternativen darzulegen. Ausgangspunkt der Überlegungen kann eine in Niedersachsen bestehende Regelung sein (Art. 68 Abs. 1 der dortigen Landesverfassung): „Wer einen Gesetzentwurf einbringt, muss die Kosten und Mindereinnahmen darlegen, die für das Land, für die Gemeinden, für die Landkreise und für betroffene andere Träger öffentlicher Verwaltung in absehbarer Zeit zu erwarten sind.“ Dies ist nach unserer Überzeugung inhaltlich um benötigte personelle Ressourcen sowie um die Auswirkungen auf private Dritte zu ergänzen, um Bevölkerung und Unternehmen einzubeziehen. Eine derartige Standardbremse könnte zunächst gesetzlich, perspektivisch auch in der Verfassung des Landes verankert werden.
- konkrete Regelungen zu Mindeststandards zu formulieren und auf allgemein gehaltene Vorgaben möglichst zu verzichten,
- Genehmigungsverfahren zu beschleunigen und zu bündeln,
- die beabsichtigte Wirkung auf die Verhältnisse, nicht einzelne Instrumente und Verfahrensweisen in den Mittelpunkt der Rechtsetzung zu stellen,
- Verwaltungs-, insbesondere Förderverfahren zeitgemäß zu verschlanken, d.h. konsequent auf das Förderziel zu beschränken und zu digitalisieren.
Die Spitzenverbände und auch wir als Kommune hoffen auf einen breit angelegten, gemeinsamen und konstruktiven Dialogprozess mit
Landtag und Landesregierung mit dem Ziel einer Verpflichtung auf eine Entlastungsallianz.